Wahrheit als Textualität. Der historisch-systematische Ort von Meister Eckharts lateinischen Bibelkommentaren

 

Dr. Martina Roesner (FWF-Einzelprojekt P 27499-G15)

Dauer: 01.12.2014-30.06.2018     

Das Forschungsprojekt ist der besonderen Stellung von Meister Eckharts lateinischen Bibelkommentaren im Zusammenhang der scholastischen Philosophie und Theologie seiner Zeit gewidmet.  Das vorliegende Projekt geht von der Grundthese aus, dass Meister Eckhart, anders als seine Zeitgenossen, seinen philosophisch-theologischen Gesamtentwurf nicht in Form von Summen und systematischen Traktaten, sondern letztlich innerhalb seiner Schriftkommentare entfaltet. Dabei fällt jedoch auf, dass Eckhart keine fortlaufenden Auslegungen zu den einzelnen biblischen Büchern verfasst, sondern in scheinbar eklektischer Manier nur bestimmte Passagen oder einzelne Verse herausgreift und die grammatikalischen Strukturen und Wörter des lateinischen Vulgata-Textes zum Ausgangspunkt spekulativer Überlegungen macht. Eckharts exegetischer Grundentwurf zeichnet sich dabei nicht nur durch ein starkes Traditionsbewusstsein aus, sondern besitzt auch ausgesprochen innovative Züge. Einerseits kehrt er mit seinem Programm einer „parabolischen“ bzw. „figurativen“ Schriftauslegung zu den älteren Formen der patristischen Bibelexegese (vor allem Augustinus und Origenes) zurück; andererseits ist seine spekulative Deutung sprachlicher und semantischer Strukturen eindeutig von der modistischen Grammatik seines Zeitgenossen Thomas von Erfurt sowie der Sprach- und Bedeutungstheorie anderer Scholastiker beeinflusst. Der Umstand, dass Eckhart nur bestimmte, einzelne Passagen aus den biblischen Büchern kommentiert, deutet darauf hin, dass er wissenschaftliche Wahrheitserkenntnis nicht mehr an die Bedingung eines aus obersten Prinzipien linear-deduktiv fortschreitenden Argumentationszusammenhangs knüpft, sondern sie als „an-archisches“ bzw. „pan-archisches“ Netzwerk versteht, in dem man, ausgehend von jedem beliebigen Wort, letztlich die gesamte Wahrheit der Hl. Schrift erschließen kann. Insofern kündigt Eckharts exegetischer Grundansatz einen tiefgreifenden Paradigmen­wechsel im scholastischen Denken an, der sich in einer verstärkten Hinwendung zur Positivität der Schriftoffenbarung und zu den konkreten, sprachlichen Vermittlungsstrukturen menschlicher Erkenntnis manifestiert.